„Wenn zu viel Absicht den Blick verstellt“

Beitrag von Martin Bruck-Peters zur Einführung in die Jahrestagung des Verbands der Beratungslehrkräfte in Niedersachsen (vbn:) am 2. März 2018 in Hannover

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren,

unsere Schule: Ist sie ver-rückt? Wenn wir es wörtlich und bildlich nehmen, dann würde das heißen:

Zu viele Dinge sind nicht mehr an dem Platz, der ihnen eigentlich zukommt. So wie ein Klei­der­schrank, der nicht an der Wand ste­ht – wie sich das gehört – son­dern … vor dem Fen­ster. Kein­er kann raus­guck­en, kein­er kann rein­guck­en. Kein­er blickt mehr durch.

Wenn wir also wis­sen wollen, ob unsere Schule in diesem Sinne „ver-rückt“ ist, soll­ten wir uns zwei Fra­gen stellen:

• Welche Dinge bes­tim­men heutzu­tage das Geschehen in unseren Schulen?
• Welch­er Platz, welch­er Stel­len­wert, sollte diesen Din­gen eigentlich zukommen?

Mit diesen bei­den Fra­gen möchte ich mich in mein­er Ein­führung beschäfti­gen und dabei ins­beson­dere auch die Bedeu­tung der Beratungslehrkräfte einbeziehen.

Blick­en wir kurz ein halbes Jahr zurück: Vor den Land­tagswahlen in Nieder­sach­sen waren die Unter­richts-ver­sorgung und der Lehrerman­gel ein zen­trales The­ma. Beispiel­haft zitiere ich den Spitzenkan­di­dat­en der CDU, Her­rn Althus­mann, der in einem Inter­view mit der HAZ erklärte:

„Wir haben derzeit viele Anrech­nungsstun­den im Schu­lall­t­ag, also eine Reduzierung der Unter­richtsverpflich­tung im Gegen­zug für grund­sät­zlich sin­nvolle Pro­jek­te. Darauf zu verzicht­en würde wehtun, aber die Unter­richtsver­sorgung muss vorgehen.“

Unter­richt soll also Vor­rang haben. Hat er das tat­säch­lich? Und wenn nicht: Was hat stattdessen Vorrang?

Wir alle wis­sen, dass immer mehr außerun­ter­richtliche The­men und Anforderun­gen an die Schulen herange­tra­gen wur­den und wer­den, welche die Köpfe der Lehrkräfte füllen, so dass diese dazu gedrängt wer­den, sich immer weniger um den Unter­richt zu kümmern.

Zur Ver­an­schaulichung: Ich habe mal in die Ein­ladun­gen zu den Gesamtkon­feren­zen mein­er Schule, des Less­ing-Gym­na­si­ums in Uelzen, aus den let­zten 10 Jahren geschaut und solche eher außerun­ter­richtlichen The­men aufge­lis­tet. Sie sind bewusst nur chro­nol­o­gisch geord­net, nicht sachori­en­tiert, denn sie sind im Lehrerall­t­ag ständig zumin­d­est latent wirk­sam, sie erheben latent Ansprüche, die Lehrkräfte müssen sozusagen jed­erzeit damit rech­nen, dass sie „um die Ecke kom­men“ („bitte anschnallen …“):

Dig­i­tale Medi­en, Raum und Begeg­nung, Beruf­sori­en­tierung, Inklu­sion, Förderkonzept, Medi­enkonzept, Hochbe­gabten­ver­bund, Konzept für den Zukun­ft­stag, Daten­schutz, Laufen für Unicef, Schulplan­er, Ler­nen­twick­lungs­bo­gen, Leit­bildpflege, Koop­er­a­tion mit der JVA, Handyregeln, Fort­bil­dungskonzept, AG Erziehungsmit­tel, Port­fo­lio, Koop­er­a­tionsver­trag mit der Arbeit­ge­berini­tia­tive, Schul­san­itäts­di­enst, Nachteil­saus­gle­ich, Ein­führungswoche für Fün­ftk­lässler, Schule plus, Sicher­heit­skonzept, Krisen­man­age­ment, Verpfle­gungskonzept, Beratungskonzept, Bil­dungs- und Teil­habepaket, Fotokopieren an Schulen, Legas­the­nie, Dyskalkulie, Liste der Selb­stver­ständlichkeit­en, Pro­jek­t­man­age­ment, Ami­don, Ganz­tagss­chule, Meth­o­d­enkonzept, Umweltschule, Mobil­ität­skonzept, Zusam­me­nar­beit mit Polizei und Staat­san­waltschaft, Schweinegrippe …

Das ist die ver-rück­te Schule, wie wir sie heute ken­nen (… und lieben). Es ist regelmäßig zu viel, was da gle­ichzeit­ig und immer neben dem Unter­richt geschafft wer­den soll. Und das Ver­track­te dabei ist: Es sind meis­tens dur­chaus gute Sachen. Auf Dinge zu verzicht­en, die schlecht sind, ist nicht so schw­er. Aber auf Dinge zu verzicht­en, die eigentlich gut sind, das ist sehr schw­er – genau das ist aber lei­der nötig.

Der Schaus­piel­er und Poli­tik­er­sohn Matthias Brandt hat kür­zlich gesagt: „Der Effizienz- und Opti­mierungs-wahnsinn lässt Leer­flächen ver­schwinden.“ (mit „ee“ …) Das trifft es gut, denn richtig gute, kreative Ideen (ins­beson­dere auch für den Unter­richt) entste­hen oft erst in Leer­flächen – und genau die fehlen.

Es wim­melt also von The­men. Und The­men set­zen Ziele. Es wim­melt also von Zie­len. Früher hieß es manch­mal bei Zielver­wirrun­gen: „Der Weg ist das Ziel“. Heute gilt: „Das Ziel ist im Weg.“

Wieso „im Weg“? Was geht ver­loren? Ich sehe die Sache so: Wenn die Lehrkräfte weit­er­hin so vieles gle­ichzeit­ig schaf­fen sollen und oft auch wollen, dann sind sie vie­len Gefahren aus­ge­set­zt – ins­beson­dere ein­er, die aus der Sicht der Beratungslehrkräfte von beson­der­er Bedeu­tung ist: Es geht mir um die fol­gende Frage: Inwieweit gelingt es den Lehrkräften in der heuti­gen hyper­ak­tiv­en Schule noch, eine gute per­sön­liche Beziehung zu den einzel­nen Schü­lerin­nen und Schülern aufzubauen?

Das ist ja zum einen wichtig, weil der Unter­richt­ser­folg bekan­ntlich von der Qual­ität der Lehrer-Schüler-Beziehung ganz wesentlich bes­timmt wird. Zum anderen ist die Lehrer-Schüler-Beziehung aber auch dafür wichtig, dass sich die Schü­lerin­nen und Schüler in der Klasse und in der Schule wohlfühlen, dass sie sich gese­hen fühlen, so wie sie sind. Aber wo sind die ruhi­gen Momente von Angesicht zu Angesicht? Wann hat eine „nor­male“ Lehrkraft die Zeit und die Ruhe, sich wirk­lich auf das einzelne Kind einzulassen?

Vie­len Schü­lerin­nen und Schülern, die bei mir in der Beratung saßen, fehlte es an tragfähi­gen Beziehun­gen, sie lit­ten an einem Man­gel an Bezugsper­so­n­en, von denen sie sich wirk­lich gese­hen fühlten. Und damit meine ich nicht nur Lehrkräfte, son­dern auch Eltern oder Mitschüler. Nicht wenige führt ihr Weg dann zu Inter­netkon­tak­ten, aber, so eine Schü­lerin ein­mal zu mir: „Da wird man nicht in den Arm genommen.“

Sich­er gibt es über­all viele sehr engagierte Lehrkräfte mit den besten Absicht­en. Aber vielle­icht steckt ger­ade darin eine tragis­che „Falle“: Das Wort „Absicht“ wird oft ver­standen im Sinne von „es auf etwas abse­hen, also etwas unbe­d­ingt wollen“ – es kann aber auch bedeuten, dass von etwas abge­se­hen wird, also dass etwas nicht gese­hen wird. Das ist nicht wortk­lauberisch. Wenn wir zu viele Absicht­en ver­fol­gen, geht das zu Las­ten unser­er Wahrnehmung. Kurz gesagt: Die Ziele sind im Weg.

Das, was ich meine, wird beson­ders deut­lich im All­t­ag von Ref­er­en­daren. Sie müssen ihre Absicht­en für jede Phase der Stunde vorher offen­le­gen und jede Abwe­ichung muss im Nach­hinein wieder mit ein­er über-zeu­gen­den Absicht begrün­det werden.

Bitte nicht falsch ver­ste­hen: Dass Lehrkräfte eigene Absicht­en haben, das ist gut so und natür­lich völ­lig in Ord­nung. Sie wer­den aber zusät­zlich noch mit der­art vie­len frem­den Absicht­en auf den Weg ins Klassen­z­im­mer geschickt, dass es sehr schw­er fällt, von diesen vie­len Absicht­en abzuse­hen und z. B. zu erken­nen, welche Chan­cen ger­ade in einem konkreten Moment in ein­er konkreten Klasse beste­hen oder dass da ein bes­timmtes Kind etwas anzeigt, was man sehen oder merken könnte.

Es ist also lei­der zu oft zu viel Absicht um die Kinder herum. Und die Kinder merken das, es gefällt ihnen nicht. Wir Erwach­se­nen sind da ja oft ähn­lich. Schon bei Goethe heißt es (in Torqua­to Tas­so): „So fühlt man Absicht, und man ist ver­stimmt.“ Ich denke, dass gute Beziehun­gen am ehesten dann entste­hen, wenn es genü­gend Momente gibt, die nahezu absicht­s­los sind.

Dass wir mit bes­timmten Absicht­en viel kaputtmachen kön­nen, hat Edward Slinger­land, ein Sinologe, mit ein­er – wie ich finde – sehr schö­nen anschaulichen Schilderung verdeutlicht.

Er schrieb:

„Ich habe meine Dok­torar­beit zum großen Teil in einem Cafe geschrieben und hat­te all diese beein­druck­enden alten chi­ne­sis­chen Büch­er auf dem Tisch. Irgend­wann habe ich gemerkt, dass die Frauen um mich herum das immer sehr inter­es­sant fan­den. Also gab es in der Folge auch Zeit­en, in denen ich die antiken Büch­er auf dem Tisch hat­te, aber gle­ichzeit­ig nach Frauen geguckt habe. Plöt­zlich fand mich nie­mand mehr inter­es­sant. Weil ich wollte, dass es passiert, ist es nicht passiert. Wahrschein­lich habe ich jedes Mal zur Tür geguckt, wenn eine Frau hereinkam, zu viel Augenkon­takt gemacht und andere kleine Zeichen aus­ge­sandt, die meine Bemühun­gen ent­larvt haben.“

Und in einem all­ge­meineren Sinne dann:

„Es kommt darauf an, wie wir wollen. Du brauchst ein Ziel, son­st hättest du ja keine Rich­tung. Aber um es zu erre­ichen, muss das Ziel in den Hin­ter­grund treten. Man ist dann von der Auf­gabe motiviert, die direkt vor einem liegt, und nicht von abstrak­ten Zie­len und Wün­schen. Das ist ein Para­dox: Wir ver­fol­gen ein Ziel, aber wir kön­nen es nur erre­ichen, wenn wir es nicht bewusst ver­fol­gen. Das gilt vor allem für soziale Inter­ak­tio­nen wie Dat­ings oder Bewer­bungs­ge­spräche. Du musst die Welt sich um dich bewe­gen lassen, statt ihr deinen Willen aufzwin­gen zu wollen.“

Das gilt ins­beson­dere für alle, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, also vor allem für Eltern und Lehrkräfte. Und für Beratungslehrkräfte. Wenn es mir gelang, eine gute Beziehung zu Rat­suchen­den aufzubauen und zu erhal­ten, so nur dann, wenn ich von vielem absah: ins­beson­dere von mir. Es ging dann nur um den anderen, um seine Leben­sum­stände und Ziele, die nicht die meinen waren. Gute Beratung ist im besten Sinne absicht­s­los. Beratungslehrkräfte haben, wenn die Zeit reicht, einen großen Vorteil im Ver­gle­ich zu den anderen Lehrkräften. Sie kön­nen die Rat­suchen­den in Ruhe anschauen, sie kön­nen hin­spüren, auch kleine Sig­nale wahrnehmen, Nähe gewin­nen, Ver­trauen gewinnen.

Was bedeutet dies nun konkret für die „ver-rück­te“ Schule, in denen Ziele und Absicht­en in ein­er zu großen Vielzahl und Inten­sität ver­fol­gt werden?

  • Beratungslehrkräfte soll­ten nicht verza­gen. Sie kön­nen sich auf den noch gel­tenden Erlass berufen, wonach sie auch die Auf­gabe der Sys­tem­ber­atung haben (Stich­wort: „Beratung von Schule“).
  • Beratungslehrkräfte kön­nen deshalb ver­suchen darauf hinzuwirken, dass sich Kol­legien und Schulleitun­gen nicht damit abfind­en, dass oft viele Ziele im Weg sind.
  • Beratungslehrkräfte kön­nen Kol­legien und Schulleitun­gen dazu ermuntern, sich ohne schlecht­es Gewis­sen von eini­gen Zie­len zu ver­ab­schieden oder wenig­stens Ziele deut­lich niedriger zu hängen.
  • Vielle­icht kann es so ja tat­säch­lich gelin­gen, dass sich Schulen und Kol­legien mehr Leer­flächen erkämpfen, auch gegen Wider­stände, damit im All­t­ag noch Luft bleibt. Nach meinem Ein­druck wün­schen sich das übri­gens auch viele Eltern. Das sind poten­tielle Verbündete.
  • Bei mehr Leer­flächen kön­nten die Lehrkräfte dann auch wieder ihre eigene Lehrerper­sön­lichkeit und das, wovon sie selb­st überzeugt sind, stärk­er ein­brin­gen und wür­den nicht zu Aus­führungs­maschi­nen bzw. Unter­richts­maschi­nen verkommen.

Und wir wis­sen ja: Nur wer überzeugt ist, kann überzeu­gen. Davon bin ich überzeugt.