Einführungsvortrag zur Tagung 2020 von Martin Bruck-Peters

“Ich glaub’, ich bin hier falsch: Wie der Resonanzbegriff von Hartmut Rosa die Fremdheitsgefühle in unseren Schulen erklären hilft”

 

Liebe Mitglieder des vbn:, liebe Gäste,

als wir im let­zten Jahr mit Vor­stand und Beirat zusam­men­saßen, um die heutige Tagung inhaltlich zu pla­nen, haben wir zunächst Aspek­te gesam­melt, die uns aktuell und wichtig erschienen. Bald stand einiges auf unser­er Liste und wir haben über­legt: „Gibt es vielle­icht so etwas wie eine ver­steck­te bedeut­same Gemein­samkeit dieser ver­schiede­nen Aspek­te, die sozusagen „über allem im Raum schwebt“? Und plöt­zlich sagte jemand: „Gemein­sam ist hier doch das Grundge­fühl viel­er: ‚Ich glaub‘, ich bin hier falsch.‘ “

In meinem Ein­führungsvor­trag möchte ich heute ver­suchen, einen wesentlichen Grund für dieses (nicht nur in Schulen) weit ver­bre­it­ete Gefühl her­auszuar­beit­en, man sei „hier falsch“. Dazu werde ich mich eines Begriffs bedi­enen, dem der Sozi­ologe Hart­mut Rosa eine beson­dere aktuelle Bedeu­tung gegeben hat: Es ist der Begriff der „Res­o­nanz“. Sein ein­schlägiges Buch heißt mit vollen Titel: „Res­o­nanz – Eine Sozi­olo­gie der Weltbeziehung“.

Es geht Rosa also um die Beziehung des Men­schen zur Welt, und in unseren Schulen geht es – eigentlich – ja genau darum bzw. sollte es gehen, und zwar sowohl hin­sichtlich der Inhalte („vor­bere­it­en auf das Leben“, also hine­in­führen in die Welt), als auch hin­sichtlich der sozialen Beziehun­gen (Ver­hal­ten in Grup­pen, Umgang mit Autoritäten u. v. m.).

Also der Begriff „Res­o­nanz“: Hart­mut Rosa definiert ihn – verkürzt gesagt – so:

  • „Res­o­nanz ist eine Form der Welt­beziehung, in der sich Sub­jekt und Welt gegen­seit­ig berühren und zugle­ich transformieren. 
  • Res­o­nanz ist keine Echobeziehung, son­dern eine Antwort­beziehung; sie set­zt voraus, dass bei­de Seit­en, also „Sub­jekt“ und „Welt“, mit eigen­er „Stimme“ sprechen. 
  • Res­o­nanz ist ein Beziehungsmodus und gegenüber dem emo­tionalen Inhalt neu­tral. Daher kön­nen wir z. B. trau­rige Geschicht­en lieben.“

Soweit der Begriff.

Es ist wichtig zu beto­nen, dass es Hart­mut Rosa nicht nur um den Beziehungsmodus zwis­chen Men­schen geht, son­dern auch um die Beziehun­gen zwis­chen dem Men­schen und … z. B. ein­er Land­schaft, ein­er Melodie, ein­er Idee, … — die Welt sagt uns etwas, wir wer­den erre­icht, etwas gewin­nt Bedeu­tung für uns und dann erfol­gt unsere eigene aktive Antwort, eine Antwort, die übri­gens oft auch eine kör­per­liche ist: Denken wir z. B. an die „Gänse­haut“, den „roten Kopf“ oder den rasenden Puls.

Unsere eigene Antwort trägt uns umso weit­er, je mehr wir selb­st die Welt für erre­ich­bar hal­ten —   wohlge­merkt: für erre­ich­bar, nicht für ver­füg­bar; ein Moment der Unver­füg­barkeit ist, so Rosa, für tat­säch­liche Res­o­nanz unerlässlich.

Die Überzeu­gung, dass die Welt erre­ich­bar ist, kann sich schon im Blick aus­drück­en. Hart­mut Rosa beze­ich­net die Augen als „Res­o­nanzfen­ster“ und als das „zen­trale Res­o­nan­zor­gan des Men­schen. Nach mein­er Mei­n­ung wird die Bedeu­tung von Blick­en ger­ade auch im schulis­chen All­t­ag immer wieder unter­schätzt, im Gegen­satz dazu wird die Bedeu­tung des gesproch­enen Wortes oft über­schätzt. Wenn wir uns an eine alte päd­a­gogis­che Erken­nt­nis erin­nern, so kön­nen wir sagen: Erziehung braucht Beziehung – und Beziehung braucht Blickkontakt.

Dazu ein erstes Blit­zlicht aus dem Schu­lall­t­ag: Ein Schüler ver­bre­it­et Unruhe an seinem Platz im Klassen­raum. Darauf kann ich als Lehrer mit ein­er bes­timmten Art Blick reagieren, den nur dieser eine Schüler oder ganz wenige, auf jeden Fall nicht alle sehen. Ger­ade unter dem Beziehungsaspekt ist so ein Blick oft hil­fre­ich­er als eine Ansprache mit Worten, die alle hören, wodurch der Ange­sproch­ene dann sofort ins Zen­trum der all­ge­meinen Aufmerk­samkeit rückt.   Oft wird der Schüler dann hör­bar, vielle­icht laut­stark reagieren, es kann hin und her gehen, die Sache nimmt immer mehr Raum ein, wird vielle­icht zu einem Machtkampf.

Im Gegen­satz dazu der wort­lose Blick: Der Schüler sieht, dass ich ihn sehe und meine und er hat die Chance so zu reagieren, dass kaum jemand meine Inter­ven­tion mit­bekommt. Es wird wieder ruhig, ohne dass viele in der Klasse sagen kön­nten, warum.

Res­o­nanz­er­fahrun­gen, bei denen sich Sub­jekt und Welt begeg­nen und einan­der „antworten“ (auch nicht hör­bar „antworten“), sind für alle Men­schen grundle­gend, wir machen sie schon vor unser­er Geburt. Die 9 Monate im Mut­ter­leib sind voller Res­o­nanz, eben­so die Geburt selb­st, dann die erste Luft, die ersten tak­tilen Ein­drücke, hof­fentlich die Blicke der Eltern. Rosa schreibt: „Der Blick­wech­sel als men­schliche Grun­der­fahrung, er gehört zu den lebensspenden­den Ent­deck­un­gen des Säuglings“.

Ja die Babys und die kleinen Kinder: Was kön­nen wir da nicht alles sehen und … ler­nen. Dazu ein zweites Blit­zlicht: Nach mein­er Pen­sion­ierung vor 2 ½ Jahren mache ich jet­zt wieder Pup­penthe­ater, haupt­säch­lich in Kindergärten. Mein Spiel ist auf Inter­ak­tion angelegt, die Kinder gehen begeis­tert mit und geben laut­stark viele tolle Ratschläge, die Hand­pup­pen gehen darauf ein, Antwort fol­gt auf Antwort, es braucht nicht ein­mal Fra­gen. Das ist Res­o­nanz pur.

Frühe Res­o­nanz­er­fahrun­gen führen dann bei den älter wer­den­den Kindern zu Res­o­nanz­er­wartun­gen, die ganz natür­lich sind und völ­lig berechtigt. Wenn diese Erwartun­gen dann später ent­täuscht wer­den (ins­beson­dere in unseren Schulen), wenn also nur noch sel­ten Res­o­nanz­mo­mente erlebt wer­den, dann kann die Verbindung zur Welt ern­sthaft Schaden nehmen und manch­er denkt: „Ich glaub‘, ich bin hier falsch.“

Das Gegen­teil von Res­o­nanz ist für Rosa übri­gens Ent­frem­dung oder, nach Han­nah Arendt, eine „Beziehung der Beziehungslosigkeit“. Sub­jekt und Welt ste­hen also ohne jede wirk­liche Beziehung nebeneinan­der. Rosa drückt es so aus: „Das sagt mir alles nichts, es bedeutet mir nichts, ich werde dadurch nicht erre­icht und ich erre­iche auch die Welt da draußen nicht (mehr).

Diese Beschrei­bung ein­er Welt­beziehung ohne Res­o­nanz kön­nte ohne Weit­eres aus der Gedanken­welt eines … depres­siv­en Men­schen stam­men. Ja: Res­o­nan­zlosigkeit kann psy­chisch krank machen. Nach ein­er jüngst von der DAK veröf­fentlicht­en Studie haben fast zwei Prozent aller Schü­lerin­nen und Schüler eine diag­nos­tizierte Depres­sion – die Dunkelz­if­fer ist hoch.

In Aus­bil­dungs­ma­te­ri­alien für die Tele­fon­seel­sorge habe ich Aus­sagen von Mar­tin Weimar gefun­den, der die Prob­lematik noch zus­pitzt. Er schreibt: „Wer suizidal wird, sagt damit, dass er keine aus­re­ichende Res­o­nanz find­et. Suizid ist also eine Resonanzstörung.“

In res­o­nan­ten Beziehun­gen hinge­gen sind wir erre­ich­bar und hal­ten die Umwelt für erre­ich­bar (so wie die Kinder im Pup­penthe­ater). Wir kön­nen ein­er­seits sel­ber mit eigen­er Stimme sprechen und akzep­tieren es ander­er­seits, ja genießen es sog­ar, wenn andere mit anderen, näm­lich ihren eige­nen Stim­men sprechen. Beziehun­gen, die in diesem Sinne res­o­nant sind, erfüllen uns, sie verbinden uns mit der Welt, wir fühlen uns in diesem Moment eben ger­ade nicht „falsch hier“, son­dern „genau richtig“.

Nun der Blick auf … unsere Schulen: Welche Chan­cen beste­hen dort heute für res­o­nante Beziehungen?

 

Meine These ist: 

Es gibt zwar „Res­o­nan­zoasen“ (z. B. in Beratungsz­im­mern), aber im alltäglichen Betrieb mit seinem nor­malen „Wahn-Sinn“, also mit der über­bor­den­den Aktiv­itäts­dichte, den tausend Einzel­regelun­gen und dem in den Schulen wirk­samen „tat­säch­lichen Geist des Bil­dungssys­tems“ wird die Entste­hung von Res­o­nanzräu­men extrem erschw­ert oder sog­ar unmöglich gemacht. Dieser „tat­säch­liche Geist des Bil­dungssys­tems“ zeigt sich ins­beson­dere in der For­mulierung von unüber­schaubaren Massen an Zie­len und in der Beschwörung bes­timmter Dog­men wie etwa dem der Ver­gle­ich­barkeit und dem der Messbarkeit.

Hart­mut Rosa hat die Prob­lematik sehr tre­f­fend beschrieben: „Erstens wird mit­tels exak­ter Lehrpläne geplant, wann was gel­ernt wer­den soll. Zweit­ens wird mit­tels weltweit ver­gle­ichen­der, exak­ter Erhe­bungsmeth­o­d­en (PISA) genauestens gemessen, inwieweit die Ziele erre­icht wer­den. Und drit­tens wird mit­tels […] ein­er wis­senschaftlichen Begleit­forschung genau bes­timmt, wann an welchen Stellschräubchen wie gedreht wer­den muss, um die Ergeb­nisse zu verbessern. Das jeden­falls ist der Traum aktueller Bil­dungspoli­tik – wen­ngle­ich jede Lehrerin und jed­er Lehrer aus erfahrungs­basiert­er alltäglich­er Arbeit nur allzu genau weiß, dass Bil­dung so nicht funktioniert.“

Wie „es sein sollte“ … und wie „es ist“: Dies bei­des klafft in der Wahrnehmung viel­er Lehrkräfte immer weit­er auseinan­der. Das „wie es sein sollte“ wird durch die Infla­tion der Ziele und Ansprüche stark aus­gedehnt. Das „wie es ist“ ent­fer­nt sich von diesen Ansprüchen immer mehr, und zwar ins­beson­dere durch die Tem­pobeschle­u­ni­gung, den Optimierungs‑, Ver­gle­ich­barkeits- und Mess­barkeitswahn sowie durch die Unüber­schaubarkeit der Verhältnisse.

Wenn nun also die wach­senden Ansprüche (von außen her und nach außen hin) und die von der einzel­nen Lehrkraft selb­st erlebte Wirk­lichkeit immer weit­er auseinan­derk­laf­fen, dann macht das Stress bis hin zum Knall (z. B. in Form eines Burn-out oder auch nur der Furcht davor). Manche ret­ten sich in Zynis­mus oder andere Muster, die als lehrerspez­i­fisch gelten.

Hierzu ein drittes Blit­zlicht: Ich war Klassen­lehrer ein­er Klasse 10 und plante eine Dop­pel­stunde Math­e­matik. Bevor ich mit dem Fachunter­richt begin­nen kon­nte, musste es an diesem Tag noch um Fol­gen­des gehen:

  • Ein­ver­ständ­nis­erk­lärun­gen der Eltern zu der Frage: Darf mein Kind auf dem Klassen­fo­to erscheinen?
  • Abfrage zum Verpfle­gungskonzept der Mensa
  • Soge­nan­nte „indi­vidu­elle Ler­nen­twick­lungs­bö­gen“ als Grund­lage für die Eltern­ber­atung; in diese hat­ten die Schü­lerin­nen und Schüler all ihre schriftlichen und mündlichen Noten regelmäßig einzutragen
  • Pla­nung eines Wandertages
  • Aktu­al­isierung des indi­vidu­ellen Port­fo­lios zur Berufsorientierung
  • Rück­mel­dun­gen der Betriebe für das Betriebspraktikum
  • Spielideen für das Fest zur Ein­wei­hung der Kletterwand
  • Infor­ma­tio­nen zur bevorste­hen­den Wahl der Pro­fil­fäch­er und der Kurse
  • Und schließlich sollte ich über die Ein­rich­tung ein­er neuen AG informieren und dazu den Anmeldezettel in der Klasse herumgeben: The­ma der AG: „Tier­fre­undlich kochen“

(am Ende keine Eintragung).

Das war genau so. Ohne jet­zt einen einzel­nen der ins­ge­samt neun Aufträge abqual­i­fizieren zu wollen: Die Masse hat mich erschreckt. Dies alles sollte inner­halb weniger Minuten „erledigt“ wer­den. Die entste­hende „Abhak­men­tal­ität“ ist ein absoluter Resonanzkiller.

Und irgend­wann … begin­nt dann … der Unter­richt. Unter dem Gesicht­spunkt der Res­o­nanz betra­chtet, ist es ver­rä­ter­isch, dass so oft von dem „Stoff“ gesprochen wird, den es „zu ver­mit­teln“ gilt. Das geht ja allen leicht von der Zunge (übri­gens auch Eltern). Die Schü­lerin­nen und Schüler aber haben eine gute Nase dafür, wenn eine Lehrkraft fast nur noch darauf aus ist, einen bes­timmten Stoff zu ver­mit­teln (im schlimm­sten Fall sog­ar Stoff, von dessen Wichtigkeit sie selb­st gar nicht überzeugt ist). Da tritt mir als Schüler dann in der Lehrper­son nicht eine Welt gegenüber, die auf Res­o­nanz hin angelegt ist, auf offene Antwort­beziehun­gen, son­dern eine Welt, die ganz Konkretes, Vorherse­hbares, Ver­gle­ich­bares erwartet, die also ger­ade nicht offen ist und die dadurch für mich als Schüler allzu oft kalt und let­ztlich stumm bleibt. Da spricht die Welt nicht zu mir, sie hat mir nichts zu sagen. Und da antwortet auch keine Welt, ich werde allein­ge­lassen. So entste­ht keine tragfähige Weltbeziehung.

Wir soll­ten also erken­nen, dass in unseren Schulen die (berechtigten) Res­o­nanz­er­wartun­gen viel­er Schü­lerin­nen und Schüler oft ent­täuscht werden.

 

An wen kön­nen wir da ins­beson­dere denken?

  • Zunächst ganz offen­sichtlich an die soge­nan­nten „Schul­ver­weiger­er“
  • dann an die soge­nan­nten Systemsprenger
  • auch an manche inklu­siv beschul­ten Schü­lerin­nen und Schüler
  • dann an die Hochbe­gabten in den Regelschulen
  • nicht zu vergessen an das einzelne mus­lim­is­che Kind eines Geflüchteten in ein­er Klasse
  • aber auch an viele andere, von außen unschein­bar, die ihre berechtigten Res­o­nanz-erwartun­gen haben, denen wir in unseren Schulen nicht gerecht wer­den (kön­nen)
  • und übri­gens auch an diejeni­gen Schü­lerin­nen und Schüler, die zweifeln, ob sie sich in der für sie richti­gen Schul­form befind­en (z. B. Gym­na­si­um oder Ober­schule,…), wo es also um einen eventuellen Spur­wech­sel geht.

Es kommt nun noch etwas hinzu, was die Prob­lematik ver­schärft: Ständig wer­den öffentlich Res­o­nanz­er­wartun­gen geschürt – manch­mal kom­men sie sog­ar als „Res­o­nanzver­sprechen“ daher. Das klingt dann (nicht nur in Son­ntagsre­den) z. B. so:

  • „Im Mit­telpunkt ste­ht der einzelne Schüler“
  • „Jed­er Schüler soll indi­vidu­ell gefördert werden“
  • Aber auch: „Die Eltern wer­den ern­stgenom­men. Der Eltern­wille ist entscheidend.“

(Neben­bei gefragt: Wer sind: eigentlich „die Eltern“?)

  • Und auch: „Auf die Lehrerper­sön­lichkeit kommt es an.“

Und gle­ichzeit­ig gibt es aber jede Menge Res­o­nanz­er­schwerung oder sog­ar Res­o­nanz-ver­hin­derung. Neben dem schon ange­sproch­enen alltäglichen schulis­chen „Wahn- Sinn“ sind hier auch all­ge­meinge­sellschaftliche Phänomene von Bedeu­tung, z. B. die … „Dig­i­tali­tis“. Ich will hier nicht ankla­gen, will keine Pro-und Con­tra-Betra­ch­tung anstellen, son­dern möchte nur einige wenige Aspek­te der Dig­i­tal­isierung betra­cht­en, die für res­o­nante Beziehun­gen von Bedeu­tung sind. Was kön­nen wir beobachten?

Zunächst dazu ein viertes Blit­zlicht: Bevor ich pen­sion­iert wurde, habe ich in mein­er let­zten Gesamtkon­ferenz einen Vor­trag gehal­ten mit einem Rück­blick auf meine fast 30 Jahre Beratungslehrertätigkeit und mit eini­gen Gedanken zur Schule von heute. Von den ins­ge­samt zwölf Tage­sor­d­nungspunk­ten dieser Kon­ferenz wur­den zehn unter Ein­satz von White­board und Beam­er gestal­tet, nur zwei nicht: Mein Vor­trag und … die Genehmi­gung des Protokolls.

Wenn bei einem Vor­trag auf ein White­board geschaut wird, dann entste­ht im Raum ein Dreieck: Vor­tra­gen­der – White­board – Zuschauer. Die Zuschauer blick­en fast die ganze Zeit auf das White­board, der (oder die) Vor­tra­gende oft eben­so. Die früher übliche direk­te Verbindung zwis­chen Vor­tra­gen­dem und Zuhören­den wird umgeleit­et, was auf Kosten der Res­o­nanz geht.

Ins­beson­dere kommt es viel sel­tener zum Blick­kon­takt zwis­chen dem Vor­tra­gen­den und der Zuhör­erschaft, die nicht mehr direkt erre­icht wird, son­dern nur noch auf einem Umweg – wenn über­haupt. Salopp gesagt: Res­o­nanz ist keine Dreiecks­beziehung. Das White­board als Mattscheibe kann mit den Zuhören­den nicht in eine Antwort­beziehung treten, die ja auf wech­sel­seit­iges berührtes und berühren­des Senden und Emp­fan­gen aus­gelegt ist. Und der Sprech­er gerät meist aus dem Blick, er (bzw. sie) ver­liert an Bedeutung.

Dann zu den Smart­phones – was kön­nen wir beobacht­en? Zum Beispiel geschäftige Eltern, die auf Handys star­ren, während sie ihren Kinder­wa­gen schieben oder auf der Bank am Spielplatz sitzen. Rosa spricht von der „smart­phone­fix­ierten Kul­tur des gesenk­ten Blicks“. Diese geht zu Las­ten des Augenkon­tak­ts im All­t­ag – ich denke, das ken­nt jed­er von uns.

Dann Schü­lerin­nen und Schüler, die auf Handys star­ren, weil sie Kon­takt suchen und Kon­takt hal­ten wollen. Aber Kon­takt ist nicht Res­o­nanz. Die Schü­lerin­nen und Schüler suchen Res­o­nanz, erhal­ten aber nur „Rück­mel­dun­gen“ (z. B. in Form von „Likes“). Rosa nen­nt dies „Res­o­nanzsim­u­la­tion“. Eigentlich ist es wie beim Frustessen: Ich glaube, es wird mir gut tun, aber hin­ter­her merke ich, wie wenig mir das gebracht hat, es tut mir let­ztlich eben nicht gut. Es bleibt eine innere Leere.

Und schließlich die Frage: Wie gehen wir mit den Men­gen an Möglichkeit­en um, die uns dig­i­tal ange­boten wer­den und die für uns – the­o­retisch – ver­füg­bar sind? Was hat die Nutzung unser­er vie­len Möglichkeit­en mit „Res­o­nanz“ zu tun?

Dazu ein fün­ftes Blit­zlicht: Eine Mut­ter erzählt: „Meine Tochter hat neulich bei uns eine Par­ty gefeiert. Ich hörte die Musik im ganzen Haus. Was mich wun­derte: Es wurde kein Lied zu Ende gespielt. Nach spätestens ein­er Minute … kam ein neues.“

Weil im Inter­net tausende Lieder zur Ver­fü­gung ste­hen, scheint es eine Ver­schwen­dung von Möglichkeit­en zu sein, nicht wenig­stens hun­dert an einem Abend zu spie­len – d. h. eigentlich spielt man sie ja nicht, man spielt sie nur „an“, man lässt sich auf das einzelne Lied nicht wirk­lich ein. Es regiert der Häp­pchen­modus, in dem ich aber kaum je Res­o­nanz­er­fahrun­gen machen kann.

Rosa sagt es so: „Soziale Medi­en zeigen sehr schön die Sehn­sucht der Men­schen, res­o­nant mit der Welt ver­bun­den zu sein. Ger­ade deswe­gen sind sie so attrak­tiv, sie gaukeln echte Res­o­nanz aber nur vor. Die neuen Medi­en ver­stärken noch ein anderes Ver­hal­ten: Wir haben uns angewöh­nt, die Welt nach immer inter­es­san­teren Optio­nen zu scan­nen. Dahin­ter steckt die Angst, irgend­wo etwas zu ver­passen. Dann kann ich aber nicht in eine Res­o­nanzbeziehung treten. Die set­zt näm­lich voraus, dass man Aufmerk­samkeit fokussiert und alles andere loslässt — nach dem Mot­to: Ich werde etwas ver­passen, ja, aber das ist mir die Sache wert.“

Ich fasse zusammen:

  • Ein Haupt­grund für das Gefühl „Ich bin hier falsch“ liegt in der Ent­täuschung berechtigter Resonanzerwartungen.
  • Res­o­nanz­er­wartun­gen sind natür­liche Erwartun­gen, weil Res­o­nanz­er­fahrun­gen für jeden Men­schen von Geburt an grundle­gend sind.
  • Später im Leben wer­den Res­o­nanz­er­wartun­gen dann immer wieder neu geschürt. Dies ist beson­ders dann fatal, wenn öffentlich hochtra­bende Ziele und Ansprüche for­muliert wer­den, die ver­messen sind, weil sie eine Ver­füg­barkeit vor­gaukeln, die es nicht gibt.

Lei­der geschieht dies in öffentlichen Debat­ten immer wieder, ins­beson­dere auch von Poli­tik­erin­nen und Poli­tik­ern. Es wird zu wenig beachtet, dass die tat­säch­liche Erfül­lung der for­mulierten hohen Ansprüche heutzu­tage oft von sehr vie­len Bedin­gun­gen abhängt, deren Ein­treten von denen, die die Erfül­lung zu garantieren ver­sprechen, kaum oder gar nicht bee­in­flusst wer­den kann – das führt zu Frust auf allen Seit­en. Und zu Schuldzuweisun­gen, die nie­man­dem helfen und die nur das Kli­ma vergiften. Am Ende gibt es nur Verlierer.

  • Res­o­nanz­er­wartun­gen sind immer auch Res­o­nanzhoff­nun­gen. Und als Hoff­nun­gen sind sie seel­isch höchst bedeut­sam. Wer­den sie ent­täuscht, dann nehmen die See­len Schaden.
  • Und wenn es stimmt, dass die Schü­lerin­nen und Schüler, aber auch die Lehrkräfte in unseren Schulen immer weniger Res­o­nanz erleben, obwohl Res­o­nanz erwartet und ver­sprochen wird, dann ist es kein Wun­der, wenn sich zunehmend das Gefühl bre­it macht: „Ich glaub‘, ich bin hier falsch“.

Was bleibt? Woran kön­nen wir uns halten?

Ein schönes Beispiel dafür, wo und wie Res­o­nanzräume entste­hen kön­nen, liefert das, was uns allen hier im Raum am Herzen liegt: Die ver­trauliche und geschützte Beratung durch Beratungslehrkräfte. Die Schü­lerin­nen und Schüler kom­men frei­willig und zwar oft ger­ade deshalb, weil sie sich falsch fühlen oder weil sich etwas falsch anfühlt. Oft fehlt es ihnen an tragfähi­gen res­o­nan­ten Beziehun­gen. In der Beratung wird dann ver­sucht, den Schü­lerin­nen und Schülern dabei zu helfen, solche Beziehun­gen wieder aufzubauen.

Es ist wichtig, dass wir alle, die wir von der Bedeu­tung der ver­traulichen Beratung in unseren Schulen überzeugt sind, immer wieder mit allen vorhan­de­nen Mit­teln ver­suchen Res­o­nanzräume zu vertei­di­gen – in der Beratung im engeren Sinne und in der Sys­tem­ber­atung des Sys­tems Schule generell: Wo sind Res­o­nanzräume oder wenig­stens Res­o­nan­zoasen? Und wo bzw. wie kön­nen wir solche vielle­icht neu schaf­fen – wo es doch gefühlt eine enorme Res­o­nanzsen­si­bil­ität und starke Res­o­nanzhoff­nun­gen gibt ? Wenn schulis­che Fra­gen erörtert wer­den, sollte auf jeden Fall immer auch der Res­o­nan­za­spekt mit bedacht werden.

Und eines ist sich­er: Arbeits­blät­ter haben keine Augen … und Tablets auch nicht. Sie kön­nen zwar Antworten auf Sach­fra­gen liefern, aber sie stiften keine Res­o­nanzbeziehun­gen. Und deshalb leis­ten sie auch keinen Beitrag dazu, dass sich unsere Schü­lerin­nen und Schüler weniger fremd, weniger falsch fühlen, als es lei­der oft der Fall ist.

In einem Stern-Inter­view macht uns Hart­mut Rosa immer­hin Mut, wenn er sagt:

„Eigentlich hören wir den ganzen Tag über kleine Res­o­nan­zap­pelle. Wir antworten nur nicht. Man kann sich trotz der All­t­ags­be­wäl­ti­gung öff­nen, neugierig sein, aus­ge­tretene Pfade ver­lassen, Dinge auch mal geschehen und sich treiben lassen. Eben „auf-hören“. Es sind die kleinen Momente und Begeg­nun­gen, die den Unter­schied machen. Mit dem Kol­le­gen reden, statt eine Mail zu schreiben, beim Konz­ert das Handy in der Tasche lassen, den Part­ner, die Kinder, die Fre­unde wirk­lich wahrnehmen, dem Obdachlosen auf der Straße einen Blick schenken und vielle­icht auch einen Euro. Schon habe ich einen kleinen Res­o­nanz­mo­ment. Es gibt viele Spiel­räume, die wir nutzen kön­nen, um nicht nur zu funktionieren.“

In diesem Sinne: Geben wir der Res­o­nanz eine Chance, auch und ger­ade in unseren Schulen – damit sich alle (und ins­beson­dere auch unsere Schü­lerin­nen und Schüler) öfter richtig und sel­tener falsch fühlen.

Vie­len Dank für Eure und Ihre Aufmerksamkeit.