“Ich glaub’, ich bin hier falsch: Wie der Resonanzbegriff von Hartmut Rosa die Fremdheitsgefühle in unseren Schulen erklären hilft”
Liebe Mitglieder des vbn:, liebe Gäste,
als wir im letzten Jahr mit Vorstand und Beirat zusammensaßen, um die heutige Tagung inhaltlich zu planen, haben wir zunächst Aspekte gesammelt, die uns aktuell und wichtig erschienen. Bald stand einiges auf unserer Liste und wir haben überlegt: „Gibt es vielleicht so etwas wie eine versteckte bedeutsame Gemeinsamkeit dieser verschiedenen Aspekte, die sozusagen „über allem im Raum schwebt“? Und plötzlich sagte jemand: „Gemeinsam ist hier doch das Grundgefühl vieler: ‚Ich glaub‘, ich bin hier falsch.‘ “
In meinem Einführungsvortrag möchte ich heute versuchen, einen wesentlichen Grund für dieses (nicht nur in Schulen) weit verbreitete Gefühl herauszuarbeiten, man sei „hier falsch“. Dazu werde ich mich eines Begriffs bedienen, dem der Soziologe Hartmut Rosa eine besondere aktuelle Bedeutung gegeben hat: Es ist der Begriff der „Resonanz“. Sein einschlägiges Buch heißt mit vollen Titel: „Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung“.
Es geht Rosa also um die Beziehung des Menschen zur Welt, und in unseren Schulen geht es – eigentlich – ja genau darum bzw. sollte es gehen, und zwar sowohl hinsichtlich der Inhalte („vorbereiten auf das Leben“, also hineinführen in die Welt), als auch hinsichtlich der sozialen Beziehungen (Verhalten in Gruppen, Umgang mit Autoritäten u. v. m.).
Also der Begriff „Resonanz“: Hartmut Rosa definiert ihn – verkürzt gesagt – so:
- „Resonanz ist eine Form der Weltbeziehung, in der sich Subjekt und Welt gegenseitig berühren und zugleich transformieren.
- Resonanz ist keine Echobeziehung, sondern eine Antwortbeziehung; sie setzt voraus, dass beide Seiten, also „Subjekt“ und „Welt“, mit eigener „Stimme“ sprechen.
- Resonanz ist ein Beziehungsmodus und gegenüber dem emotionalen Inhalt neutral. Daher können wir z. B. traurige Geschichten lieben.“
Soweit der Begriff.
Es ist wichtig zu betonen, dass es Hartmut Rosa nicht nur um den Beziehungsmodus zwischen Menschen geht, sondern auch um die Beziehungen zwischen dem Menschen und … z. B. einer Landschaft, einer Melodie, einer Idee, … — die Welt sagt uns etwas, wir werden erreicht, etwas gewinnt Bedeutung für uns und dann erfolgt unsere eigene aktive Antwort, eine Antwort, die übrigens oft auch eine körperliche ist: Denken wir z. B. an die „Gänsehaut“, den „roten Kopf“ oder den rasenden Puls.
Unsere eigene Antwort trägt uns umso weiter, je mehr wir selbst die Welt für erreichbar halten — wohlgemerkt: für erreichbar, nicht für verfügbar; ein Moment der Unverfügbarkeit ist, so Rosa, für tatsächliche Resonanz unerlässlich.
Die Überzeugung, dass die Welt erreichbar ist, kann sich schon im Blick ausdrücken. Hartmut Rosa bezeichnet die Augen als „Resonanzfenster“ und als das „zentrale Resonanzorgan des Menschen.“ Nach meiner Meinung wird die Bedeutung von Blicken gerade auch im schulischen Alltag immer wieder unterschätzt, im Gegensatz dazu wird die Bedeutung des gesprochenen Wortes oft überschätzt. Wenn wir uns an eine alte pädagogische Erkenntnis erinnern, so können wir sagen: Erziehung braucht Beziehung – und Beziehung braucht Blickkontakt.
Dazu ein erstes Blitzlicht aus dem Schulalltag: Ein Schüler verbreitet Unruhe an seinem Platz im Klassenraum. Darauf kann ich als Lehrer mit einer bestimmten Art Blick reagieren, den nur dieser eine Schüler oder ganz wenige, auf jeden Fall nicht alle sehen. Gerade unter dem Beziehungsaspekt ist so ein Blick oft hilfreicher als eine Ansprache mit Worten, die alle hören, wodurch der Angesprochene dann sofort ins Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit rückt. Oft wird der Schüler dann hörbar, vielleicht lautstark reagieren, es kann hin und her gehen, die Sache nimmt immer mehr Raum ein, wird vielleicht zu einem Machtkampf.
Im Gegensatz dazu der wortlose Blick: Der Schüler sieht, dass ich ihn sehe und meine und er hat die Chance so zu reagieren, dass kaum jemand meine Intervention mitbekommt. Es wird wieder ruhig, ohne dass viele in der Klasse sagen könnten, warum.
Resonanzerfahrungen, bei denen sich Subjekt und Welt begegnen und einander „antworten“ (auch nicht hörbar „antworten“), sind für alle Menschen grundlegend, wir machen sie schon vor unserer Geburt. Die 9 Monate im Mutterleib sind voller Resonanz, ebenso die Geburt selbst, dann die erste Luft, die ersten taktilen Eindrücke, hoffentlich die Blicke der Eltern. Rosa schreibt: „Der Blickwechsel als menschliche Grunderfahrung, er gehört zu den lebensspendenden Entdeckungen des Säuglings“.
Ja die Babys und die kleinen Kinder: Was können wir da nicht alles sehen und … lernen. Dazu ein zweites Blitzlicht: Nach meiner Pensionierung vor 2 ½ Jahren mache ich jetzt wieder Puppentheater, hauptsächlich in Kindergärten. Mein Spiel ist auf Interaktion angelegt, die Kinder gehen begeistert mit und geben lautstark viele tolle Ratschläge, die Handpuppen gehen darauf ein, Antwort folgt auf Antwort, es braucht nicht einmal Fragen. Das ist Resonanz pur.
Frühe Resonanzerfahrungen führen dann bei den älter werdenden Kindern zu Resonanzerwartungen, die ganz natürlich sind und völlig berechtigt. Wenn diese Erwartungen dann später enttäuscht werden (insbesondere in unseren Schulen), wenn also nur noch selten Resonanzmomente erlebt werden, dann kann die Verbindung zur Welt ernsthaft Schaden nehmen und mancher denkt: „Ich glaub‘, ich bin hier falsch.“
Das Gegenteil von Resonanz ist für Rosa übrigens Entfremdung oder, nach Hannah Arendt, eine „Beziehung der Beziehungslosigkeit“. Subjekt und Welt stehen also ohne jede wirkliche Beziehung nebeneinander. Rosa drückt es so aus: „Das sagt mir alles nichts, es bedeutet mir nichts, ich werde dadurch nicht erreicht und ich erreiche auch die Welt da draußen nicht (mehr).“
Diese Beschreibung einer Weltbeziehung ohne Resonanz könnte ohne Weiteres aus der Gedankenwelt eines … depressiven Menschen stammen. Ja: Resonanzlosigkeit kann psychisch krank machen. Nach einer jüngst von der DAK veröffentlichten Studie haben fast zwei Prozent aller Schülerinnen und Schüler eine diagnostizierte Depression – die Dunkelziffer ist hoch.
In Ausbildungsmaterialien für die Telefonseelsorge habe ich Aussagen von Martin Weimar gefunden, der die Problematik noch zuspitzt. Er schreibt: „Wer suizidal wird, sagt damit, dass er keine ausreichende Resonanz findet. Suizid ist also eine Resonanzstörung.“
In resonanten Beziehungen hingegen sind wir erreichbar und halten die Umwelt für erreichbar (so wie die Kinder im Puppentheater). Wir können einerseits selber mit eigener Stimme sprechen und akzeptieren es andererseits, ja genießen es sogar, wenn andere mit anderen, nämlich ihren eigenen Stimmen sprechen. Beziehungen, die in diesem Sinne resonant sind, erfüllen uns, sie verbinden uns mit der Welt, wir fühlen uns in diesem Moment eben gerade nicht „falsch hier“, sondern „genau richtig“.
Nun der Blick auf … unsere Schulen: Welche Chancen bestehen dort heute für resonante Beziehungen?
Meine These ist:
Es gibt zwar „Resonanzoasen“ (z. B. in Beratungszimmern), aber im alltäglichen Betrieb mit seinem normalen „Wahn-Sinn“, also mit der überbordenden Aktivitätsdichte, den tausend Einzelregelungen und dem in den Schulen wirksamen „tatsächlichen Geist des Bildungssystems“ wird die Entstehung von Resonanzräumen extrem erschwert oder sogar unmöglich gemacht. Dieser „tatsächliche Geist des Bildungssystems“ zeigt sich insbesondere in der Formulierung von unüberschaubaren Massen an Zielen und in der Beschwörung bestimmter Dogmen wie etwa dem der Vergleichbarkeit und dem der Messbarkeit.
Hartmut Rosa hat die Problematik sehr treffend beschrieben: „Erstens wird mittels exakter Lehrpläne geplant, wann was gelernt werden soll. Zweitens wird mittels weltweit vergleichender, exakter Erhebungsmethoden (PISA) genauestens gemessen, inwieweit die Ziele erreicht werden. Und drittens wird mittels […] einer wissenschaftlichen Begleitforschung genau bestimmt, wann an welchen Stellschräubchen wie gedreht werden muss, um die Ergebnisse zu verbessern. Das jedenfalls ist der Traum aktueller Bildungspolitik – wenngleich jede Lehrerin und jeder Lehrer aus erfahrungsbasierter alltäglicher Arbeit nur allzu genau weiß, dass Bildung so nicht funktioniert.“
Wie „es sein sollte“ … und wie „es ist“: Dies beides klafft in der Wahrnehmung vieler Lehrkräfte immer weiter auseinander. Das „wie es sein sollte“ wird durch die Inflation der Ziele und Ansprüche stark ausgedehnt. Das „wie es ist“ entfernt sich von diesen Ansprüchen immer mehr, und zwar insbesondere durch die Tempobeschleunigung, den Optimierungs‑, Vergleichbarkeits- und Messbarkeitswahn sowie durch die Unüberschaubarkeit der Verhältnisse.
Wenn nun also die wachsenden Ansprüche (von außen her und nach außen hin) und die von der einzelnen Lehrkraft selbst erlebte Wirklichkeit immer weiter auseinanderklaffen, dann macht das Stress bis hin zum Knall (z. B. in Form eines Burn-out oder auch nur der Furcht davor). Manche retten sich in Zynismus oder andere Muster, die als lehrerspezifisch gelten.
Hierzu ein drittes Blitzlicht: Ich war Klassenlehrer einer Klasse 10 und plante eine Doppelstunde Mathematik. Bevor ich mit dem Fachunterricht beginnen konnte, musste es an diesem Tag noch um Folgendes gehen:
- Einverständniserklärungen der Eltern zu der Frage: Darf mein Kind auf dem Klassenfoto erscheinen?
- Abfrage zum Verpflegungskonzept der Mensa
- Sogenannte „individuelle Lernentwicklungsbögen“ als Grundlage für die Elternberatung; in diese hatten die Schülerinnen und Schüler all ihre schriftlichen und mündlichen Noten regelmäßig einzutragen
- Planung eines Wandertages
- Aktualisierung des individuellen Portfolios zur Berufsorientierung
- Rückmeldungen der Betriebe für das Betriebspraktikum
- Spielideen für das Fest zur Einweihung der Kletterwand
- Informationen zur bevorstehenden Wahl der Profilfächer und der Kurse
- Und schließlich sollte ich über die Einrichtung einer neuen AG informieren und dazu den Anmeldezettel in der Klasse herumgeben: Thema der AG: „Tierfreundlich kochen“
(am Ende keine Eintragung).
Das war genau so. Ohne jetzt einen einzelnen der insgesamt neun Aufträge abqualifizieren zu wollen: Die Masse hat mich erschreckt. Dies alles sollte innerhalb weniger Minuten „erledigt“ werden. Die entstehende „Abhakmentalität“ ist ein absoluter Resonanzkiller.
Und irgendwann … beginnt dann … der Unterricht. Unter dem Gesichtspunkt der Resonanz betrachtet, ist es verräterisch, dass so oft von dem „Stoff“ gesprochen wird, den es „zu vermitteln“ gilt. Das geht ja allen leicht von der Zunge (übrigens auch Eltern). Die Schülerinnen und Schüler aber haben eine gute Nase dafür, wenn eine Lehrkraft fast nur noch darauf aus ist, einen bestimmten Stoff zu vermitteln (im schlimmsten Fall sogar Stoff, von dessen Wichtigkeit sie selbst gar nicht überzeugt ist). Da tritt mir als Schüler dann in der Lehrperson nicht eine Welt gegenüber, die auf Resonanz hin angelegt ist, auf offene Antwortbeziehungen, sondern eine Welt, die ganz Konkretes, Vorhersehbares, Vergleichbares erwartet, die also gerade nicht offen ist und die dadurch für mich als Schüler allzu oft kalt und letztlich stumm bleibt. Da spricht die Welt nicht zu mir, sie hat mir nichts zu sagen. Und da antwortet auch keine Welt, ich werde alleingelassen. So entsteht keine tragfähige Weltbeziehung.
Wir sollten also erkennen, dass in unseren Schulen die (berechtigten) Resonanzerwartungen vieler Schülerinnen und Schüler oft enttäuscht werden.
An wen können wir da insbesondere denken?
- Zunächst ganz offensichtlich an die sogenannten „Schulverweigerer“
- dann an die sogenannten Systemsprenger
- auch an manche inklusiv beschulten Schülerinnen und Schüler
- dann an die Hochbegabten in den Regelschulen
- nicht zu vergessen an das einzelne muslimische Kind eines Geflüchteten in einer Klasse
- aber auch an viele andere, von außen unscheinbar, die ihre berechtigten Resonanz-erwartungen haben, denen wir in unseren Schulen nicht gerecht werden (können)
- und übrigens auch an diejenigen Schülerinnen und Schüler, die zweifeln, ob sie sich in der für sie richtigen Schulform befinden (z. B. Gymnasium oder Oberschule,…), wo es also um einen eventuellen Spurwechsel geht.
Es kommt nun noch etwas hinzu, was die Problematik verschärft: Ständig werden öffentlich Resonanzerwartungen geschürt – manchmal kommen sie sogar als „Resonanzversprechen“ daher. Das klingt dann (nicht nur in Sonntagsreden) z. B. so:
- „Im Mittelpunkt steht der einzelne Schüler“
- „Jeder Schüler soll individuell gefördert werden“
- Aber auch: „Die Eltern werden ernstgenommen. Der Elternwille ist entscheidend.“
(Nebenbei gefragt: Wer sind: eigentlich „die Eltern“?)
- Und auch: „Auf die Lehrerpersönlichkeit kommt es an.“
Und gleichzeitig gibt es aber jede Menge Resonanzerschwerung oder sogar Resonanz-verhinderung. Neben dem schon angesprochenen alltäglichen schulischen „Wahn- Sinn“ sind hier auch allgemeingesellschaftliche Phänomene von Bedeutung, z. B. die … „Digitalitis“. Ich will hier nicht anklagen, will keine Pro-und Contra-Betrachtung anstellen, sondern möchte nur einige wenige Aspekte der Digitalisierung betrachten, die für resonante Beziehungen von Bedeutung sind. Was können wir beobachten?
Zunächst dazu ein viertes Blitzlicht: Bevor ich pensioniert wurde, habe ich in meiner letzten Gesamtkonferenz einen Vortrag gehalten mit einem Rückblick auf meine fast 30 Jahre Beratungslehrertätigkeit und mit einigen Gedanken zur Schule von heute. Von den insgesamt zwölf Tagesordnungspunkten dieser Konferenz wurden zehn unter Einsatz von Whiteboard und Beamer gestaltet, nur zwei nicht: Mein Vortrag und … die Genehmigung des Protokolls.
Wenn bei einem Vortrag auf ein Whiteboard geschaut wird, dann entsteht im Raum ein Dreieck: Vortragender – Whiteboard – Zuschauer. Die Zuschauer blicken fast die ganze Zeit auf das Whiteboard, der (oder die) Vortragende oft ebenso. Die früher übliche direkte Verbindung zwischen Vortragendem und Zuhörenden wird umgeleitet, was auf Kosten der Resonanz geht.
Insbesondere kommt es viel seltener zum Blickkontakt zwischen dem Vortragenden und der Zuhörerschaft, die nicht mehr direkt erreicht wird, sondern nur noch auf einem Umweg – wenn überhaupt. Salopp gesagt: Resonanz ist keine Dreiecksbeziehung. Das Whiteboard als Mattscheibe kann mit den Zuhörenden nicht in eine Antwortbeziehung treten, die ja auf wechselseitiges berührtes und berührendes Senden und Empfangen ausgelegt ist. Und der Sprecher gerät meist aus dem Blick, er (bzw. sie) verliert an Bedeutung.
Dann zu den Smartphones – was können wir beobachten? Zum Beispiel geschäftige Eltern, die auf Handys starren, während sie ihren Kinderwagen schieben oder auf der Bank am Spielplatz sitzen. Rosa spricht von der „smartphonefixierten Kultur des gesenkten Blicks“. Diese geht zu Lasten des Augenkontakts im Alltag – ich denke, das kennt jeder von uns.
Dann Schülerinnen und Schüler, die auf Handys starren, weil sie Kontakt suchen und Kontakt halten wollen. Aber Kontakt ist nicht Resonanz. Die Schülerinnen und Schüler suchen Resonanz, erhalten aber nur „Rückmeldungen“ (z. B. in Form von „Likes“). Rosa nennt dies „Resonanzsimulation“. Eigentlich ist es wie beim Frustessen: Ich glaube, es wird mir gut tun, aber hinterher merke ich, wie wenig mir das gebracht hat, es tut mir letztlich eben nicht gut. Es bleibt eine innere Leere.
Und schließlich die Frage: Wie gehen wir mit den Mengen an Möglichkeiten um, die uns digital angeboten werden und die für uns – theoretisch – verfügbar sind? Was hat die Nutzung unserer vielen Möglichkeiten mit „Resonanz“ zu tun?
Dazu ein fünftes Blitzlicht: Eine Mutter erzählt: „Meine Tochter hat neulich bei uns eine Party gefeiert. Ich hörte die Musik im ganzen Haus. Was mich wunderte: Es wurde kein Lied zu Ende gespielt. Nach spätestens einer Minute … kam ein neues.“
Weil im Internet tausende Lieder zur Verfügung stehen, scheint es eine Verschwendung von Möglichkeiten zu sein, nicht wenigstens hundert an einem Abend zu spielen – d. h. eigentlich spielt man sie ja nicht, man spielt sie nur „an“, man lässt sich auf das einzelne Lied nicht wirklich ein. Es regiert der Häppchenmodus, in dem ich aber kaum je Resonanzerfahrungen machen kann.
Rosa sagt es so: „Soziale Medien zeigen sehr schön die Sehnsucht der Menschen, resonant mit der Welt verbunden zu sein. Gerade deswegen sind sie so attraktiv, sie gaukeln echte Resonanz aber nur vor. Die neuen Medien verstärken noch ein anderes Verhalten: Wir haben uns angewöhnt, die Welt nach immer interessanteren Optionen zu scannen. Dahinter steckt die Angst, irgendwo etwas zu verpassen. Dann kann ich aber nicht in eine Resonanzbeziehung treten. Die setzt nämlich voraus, dass man Aufmerksamkeit fokussiert und alles andere loslässt — nach dem Motto: Ich werde etwas verpassen, ja, aber das ist mir die Sache wert.“
Ich fasse zusammen:
- Ein Hauptgrund für das Gefühl „Ich bin hier falsch“ liegt in der Enttäuschung berechtigter Resonanzerwartungen.
- Resonanzerwartungen sind natürliche Erwartungen, weil Resonanzerfahrungen für jeden Menschen von Geburt an grundlegend sind.
- Später im Leben werden Resonanzerwartungen dann immer wieder neu geschürt. Dies ist besonders dann fatal, wenn öffentlich hochtrabende Ziele und Ansprüche formuliert werden, die vermessen sind, weil sie eine Verfügbarkeit vorgaukeln, die es nicht gibt.
Leider geschieht dies in öffentlichen Debatten immer wieder, insbesondere auch von Politikerinnen und Politikern. Es wird zu wenig beachtet, dass die tatsächliche Erfüllung der formulierten hohen Ansprüche heutzutage oft von sehr vielen Bedingungen abhängt, deren Eintreten von denen, die die Erfüllung zu garantieren versprechen, kaum oder gar nicht beeinflusst werden kann – das führt zu Frust auf allen Seiten. Und zu Schuldzuweisungen, die niemandem helfen und die nur das Klima vergiften. Am Ende gibt es nur Verlierer.
- Resonanzerwartungen sind immer auch Resonanzhoffnungen. Und als Hoffnungen sind sie seelisch höchst bedeutsam. Werden sie enttäuscht, dann nehmen die Seelen Schaden.
- Und wenn es stimmt, dass die Schülerinnen und Schüler, aber auch die Lehrkräfte in unseren Schulen immer weniger Resonanz erleben, obwohl Resonanz erwartet und versprochen wird, dann ist es kein Wunder, wenn sich zunehmend das Gefühl breit macht: „Ich glaub‘, ich bin hier falsch“.
Was bleibt? Woran können wir uns halten?
Ein schönes Beispiel dafür, wo und wie Resonanzräume entstehen können, liefert das, was uns allen hier im Raum am Herzen liegt: Die vertrauliche und geschützte Beratung durch Beratungslehrkräfte. Die Schülerinnen und Schüler kommen freiwillig und zwar oft gerade deshalb, weil sie sich falsch fühlen oder weil sich etwas falsch anfühlt. Oft fehlt es ihnen an tragfähigen resonanten Beziehungen. In der Beratung wird dann versucht, den Schülerinnen und Schülern dabei zu helfen, solche Beziehungen wieder aufzubauen.
Es ist wichtig, dass wir alle, die wir von der Bedeutung der vertraulichen Beratung in unseren Schulen überzeugt sind, immer wieder mit allen vorhandenen Mitteln versuchen Resonanzräume zu verteidigen – in der Beratung im engeren Sinne und in der Systemberatung des Systems Schule generell: Wo sind Resonanzräume oder wenigstens Resonanzoasen? Und wo bzw. wie können wir solche vielleicht neu schaffen – wo es doch gefühlt eine enorme Resonanzsensibilität und starke Resonanzhoffnungen gibt ? Wenn schulische Fragen erörtert werden, sollte auf jeden Fall immer auch der Resonanzaspekt mit bedacht werden.
Und eines ist sicher: Arbeitsblätter haben keine Augen … und Tablets auch nicht. Sie können zwar Antworten auf Sachfragen liefern, aber sie stiften keine Resonanzbeziehungen. Und deshalb leisten sie auch keinen Beitrag dazu, dass sich unsere Schülerinnen und Schüler weniger fremd, weniger falsch fühlen, als es leider oft der Fall ist.
In einem Stern-Interview macht uns Hartmut Rosa immerhin Mut, wenn er sagt:
„Eigentlich hören wir den ganzen Tag über kleine Resonanzappelle. Wir antworten nur nicht. Man kann sich trotz der Alltagsbewältigung öffnen, neugierig sein, ausgetretene Pfade verlassen, Dinge auch mal geschehen und sich treiben lassen. Eben „auf-hören“. Es sind die kleinen Momente und Begegnungen, die den Unterschied machen. Mit dem Kollegen reden, statt eine Mail zu schreiben, beim Konzert das Handy in der Tasche lassen, den Partner, die Kinder, die Freunde wirklich wahrnehmen, dem Obdachlosen auf der Straße einen Blick schenken und vielleicht auch einen Euro. Schon habe ich einen kleinen Resonanzmoment. Es gibt viele Spielräume, die wir nutzen können, um nicht nur zu funktionieren.“
In diesem Sinne: Geben wir der Resonanz eine Chance, auch und gerade in unseren Schulen – damit sich alle (und insbesondere auch unsere Schülerinnen und Schüler) öfter richtig und seltener falsch fühlen.
Vielen Dank für Eure und Ihre Aufmerksamkeit.